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Titel
Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde


Autor(en)
Wietschorke, Jens
Erschienen
Ditzingen 2023: Reclam
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Morat, Deutsches Historisches Museum, Berlin

Städte bestehen nicht allein aus materiellen Strukturen wie Gebäuden, Straßen, Parks und Plätzen. Sie bestehen auch aus Ideen, Geschichten, Bildern und Vorstellungen. Dieses „kulturelle Imaginäre“ (S. 25) prägt nicht nur unsere alltägliche Wahrnehmung einzelner Städte, es ist auch schon häufig zum Gegenstand der Stadtgeschichtsforschung gemacht worden, nicht selten verbunden mit der Frage nach der „Eigenlogik“ (Martina Löw) bzw. dem „Habitus“ (Lutz Musner) einer Stadt. Was macht Paris zu Paris? Wie unterscheidet es sich von anderen Metropolen? Und woran erkennt man die Pariserin im Unterschied etwa zum Londoner? In welcher Weise spiegelt sich also der Habitus der Städte auch im Habitus ihrer Bewohner:innen? Derartige Fragen machen bereits deutlich, dass Städte sich nicht nur im Blick auf sich selbst definieren, sondern auch in Abgrenzung zu anderen Städten. Dies gilt besonders für Metropolen und Hauptstädte, deren kulturelles Imaginäres in der Moderne zumeist an Fragen der nationalen Identität und der Konkurrenz mit anderen Metropolen geknüpft ist.

Einem solchen Wechsel- und Abgrenzungsverhältnis zweier Metropolen hat Jens Wietschorke, Kulturwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München, nun am Beispiel von Wien und Berlin ein sehr gut lesbares Buch gewidmet, das sich an ein breiteres Publikum richtet. Er konzentriert sich darin auf die Jahre der klassischen Moderne von 1870 bis 1930, aber mit Herleitungen aus der früheren Zeit und mit Ausblicken ins spätere 20. Jahrhundert. Wien und Berlin stehen dabei auch für „zwei unterschiedliche Wege in die heraufziehende Moderne“ (S. 33), einen traditionsorientierten, auf Kontinuität bedachten – „Wien bleibt Wien“ – und einen dynamischen, auf das Neue orientierten – Berlin sei dazu verdammt, „immerfort zu werden und niemals zu sein”, wie das berühmte Diktum Karl Schefflers von 1910 lautet. Bei diesen Zitaten handelt es sich zwar um stereotype Zuschreibungen, sie korrelieren aber – ein wiederkehrendes Thema bei Wietschorke – durchaus mit realgeschichtlichen Entwicklungen.

Anders als Wien konnte Berlin im 19. Jahrhundert nicht auf eine besonders glorreiche Vergangenheit zurückblicken. Bis zur Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 war Wien im Vergleich mit Berlin unangefochten die bedeutendere Metropole, nicht nur als bis dahin einzige deutschsprachige Kaiserstadt, sondern auch als Stadt der Wissenschaften und der Künste. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts spiegelte sich der Dualismus zwischen Österreich und Preußen jedoch verstärkt im Dualismus der beiden Metropolen. Als zweite Reichshauptstadt sowie infolge der Hochurbanisierung und der sogenannten zweiten industriellen Revolution, als es zur „Elektropolis“ (S. 106) wurde, zog Berlin ab etwa 1880 auf der Ebene der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung mehr und mehr mit Wien gleich. Der Dualismus der beiden Metropolen hatte dabei auch eine konfessionelle Dimension. So wurde Berlin zumeist mit einem vernunftorientierten Protestantismus in Verbindung gebracht, während Wien für einen sinnenfrohen Katholizismus stand. Berlin sei der „Kopf“ und Wien das „Herz“ des „deutschen Körpers“ – auf diesen metaphorischen Gegensatz brachte der schwäbische Dichter Justinus Kerner die Städtekonkurrenz schon Mitte des 19. Jahrhunderts (S. 33).

Nach dem Ersten Weltkrieg verlagerten sich die Gewichte erneut. Mit der Bildung Groß-Berlins 1920 überflügelte Berlin Wien nicht nur an Einwohnerzahl und Wirtschaftsleistung; auch kulturell entwickelte Berlin in den 1920er-Jahren eine größere Anziehungskraft als Wien. Politisch schwand die Bedeutung Wiens als österreichische Hauptstadt durch das Auseinanderbrechen des Habsburger Reiches. Die Kräfte im „Magnetfeld“ (S. 7) zwischen Wien und Berlin, von dem Wietschorke an mehreren Stellen spricht, verschoben sich also im Laufe des Untersuchungszeitraums mehr und mehr von Wien nach Berlin.

Diese Verschiebungen schildert der Autor im Wesentlichen auf zwei Ebenen. Zum einen zieht er eine große Zahl von literarischen und journalistischen Stadtbeschreibungen heran, die den Vergleich zwischen Wien und Berlin anstellten. Das heißt, Wietschorke vergleicht nicht in erster Linie Stadtbeschreibungen von Wien und Berlin, „sondern der vergleichende Blick selbst wird untersucht“ (S. 9). Zum anderen behandelt er die Lebensgeschichten berühmter Persönlichkeiten, die sich zwischen Wien und Berlin bewegten, wobei hier die Wiener:innen in Berlin die Berliner:innen in Wien eindeutig überwogen, besonders in den 1920er-Jahren. Auf dieser Ebene ist das Buch eine anschaulich und mitreißend geschriebene Geschichte des literarischen, musikalischen und künstlerischen Lebens zwischen den beiden Metropolen, bevölkert von bekannten Schriftsteller:innen wie Vicky Baum, Elias Canetti, Robert Musil und Alfred Polgar, Theaterschaffenden wie Max Reinhardt und Fritzi Massary oder Komponisten wie Arnold Schönberg, Ernst Krenek und Hanns Eisler. Wie diese Namen bereits deutlich machen, handelte es sich dabei nicht selten um Jüdinnen und Juden, die Berlin nach 1933 verlassen mussten und häufig zunächst nach Wien zurückkehrten, bevor sie durch den „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland 1938 auch von dort vertrieben wurden. Im letzten Kapitel wird das Buch daher vor allem zu einer Geschichte des Exils, bevor es sich zum Schluss mit der Auflösung der etablierten Wien-Berlin-Tropen beschäftigt, denn „Nationalsozialismus, Weltkrieg und die gravierenden politischen Transformationen nach 1945 haben die Wahrnehmung der beiden Metropolen Wien und Berlin nachhaltig verändert und damit auch der traditionellen Städtekonkurrenz die Basis entzogen“ (S. 284f.).

Die von Jens Wietschorke untersuchten Stereotype Berlins und Wiens waren nicht einfach da, sondern wurden hergestellt, wie der Autor in seiner Schlussbemerkung treffend schreibt; sie waren ein „Produkt des selektiven Blicks“ (S. 304). Das gilt für die zeitgenössischen Stadtbeobachter:innen, die die gemütlichen Seiten Berlins und die hektischen Seiten Wiens geflissentlich übersahen, um die Klischeevorstellungen der beiden Städte nicht zu irritieren. Das gilt aber natürlich auch für jeden Buchautor, der sich auf bestimmte Quellen stützt und andere beiseitelässt. So kann man sich bei der Lektüre von Wietschorkes Buch gelegentlich fragen, wie sich das Bild verändert hätte, wenn er den an einigen Stellen angedeuteten Vergleich mit weiteren Städten wie Paris, München oder auch Chicago ausführlicher verfolgt oder andere Protagonisten etwa auf der politischen Rechten stärker in den Blick genommen hätte. Denn so steckt doch auch viel Bekanntes aus der „klassischen“ Geschichte der klassischen Moderne in diesem Buch. Durch seine Methode, den „Zirkulationsprozess zwischen Klischee und Wirklichkeit“ (S. 120) zu untersuchen, entgeht Wietschorke jedoch letztlich immer einer bloßen Reproduktion der Klischees, die er ja nur aufführt, um die Mechanismen ihrer Konstruktion offenzulegen. Auf diese Weise hat er ein kluges, elegant erzähltes Buch geschrieben, bei dem man das Vergnügen hat, zahlreiche Facetten der Wiener und Berliner Moderne vorgeführt zu bekommen und gleichzeitig darüber aufgeklärt zu werden, warum einem das alles so bekannt vorkommt und was hinter den eigenen Klischeevorstellungen dieser Städte steckt.